Wir alle wissen, dass wir den Sozialstaat verändern müssen, um ihn in Zukunft zu erhalten. Der begonnene Reformprozess ist damit unumkehrbar.
Die Zahlen der Bevölkerungsentwicklung sprechen seit Jahren eine sehr deutliche Sprache. Unser soziales Sicherungssystem, das ursprünglich als Schutz und Hilfe konzipiert war, hat sich in den Augen vieler junger Familien und Arbeitnehmer zum bloßen „abkassieren“ durch den Staat entwickelt. Für die Verwirklichung eigener Lebensvorstellungen bleibt zu wenig Netto vom hart erarbeiteten Brutto. Der Generationenvertrag hat aus vielen Gründen seine Bindungskraft stark eingebüßt – auch, weil sich viele „Vertragspartner“ als übervorteilt empfinden. Zur Wiederbelebung ist eine neue Perspektive erforderlich. Das gilt, neben der Renten- und Sozialpolitik, in besonderem Maße für die Gesundheitspolitik.
Für das deutsche Gesundheitswesen steht eine substanzielle Reform aus. Die Krankenkassen arbeiten ineffizient und durch die Privatversicherungen haben wir, im Zusammenspiel mit den „gedeckelten“ Budgets der Ärzte, eine ausgeprägte Zwei-Klassen-Medizin. Die Zahl der Krankenkassen muss verringert und die Selbstverwaltung der Kassenärztlichen Vereinigung wesentlich effektiviert werden. Die Monopole der Pharmaindustrie können nicht weiter unangetastet bleiben.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass bei immer weniger Einzahlern, aber stetig zunehmender Patientenanzahl unser System der Gesundheitsfinanzierung tendenziell teurer werden muss. Über einen gewissen Zeitraum sind die Kosten des medizinisch-technischen Fortschritts vielleicht über Einsparungen zu finanzieren, auf Dauer funktioniert das jedoch nicht.
Das Beispiel der halbherzigen Gesundheitsreform vom 01.01.2004 (die nur ein durch die damalige Bundesratsmehrheit erzwungener Kompromiss sein konnte) zeigt eindeutig, dass eine solche Reform nur dann nachhaltig wirken kann, wenn sie das System komplex verändert und nicht nur „an einigen Stellschrauben dreht“. Wichtig ist ihre Ausgewogenheit in der Belastung aller Beteiligten. Eine weitere einseitige Belastung der Kassenpatienten, unter Aussparung der Pharmaindustrie, der privaten Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigungen, würde ihre Akzeptanz deutlich mindern und wiederum nur Stückwerk darstellen. Deshalb müssen sich auch die Kassenärztlichen Vereinigungen einem Wettbewerb stellen. Direktverträge zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenkassen können dort den nötigen Druck erzeugen.
Eine gewisse Vielzahl und Vielfalt von Krankenkassen bleibt Voraussetzung für den Wettbewerb im Gesundheitswesen. Trotzdem sollte sich die Anzahl der Krankenkassen in Deutschland verringern und an Effektivitätsmaßstäben messen lassen.
Der Vorteil des Konzeptes der „Bürgerversicherung“ liegt zweifellos in seiner sozialen Verteilungsgerechtigkeit. Seine Schwäche ist jedoch in der Nichtentkopplung der Gesundheitskosten von den Kosten der Arbeit und in der Nichtbeantwortung der Frage zu sehen, woraus steigende Kosten finanziert werden sollen. Dies bedeutet, dass Privatpatienten nicht mehr besser behandelt werden sollen als Kassenpatienten, wird nur dann als Fortschritt wahrgenommen, wenn die Kassenpatienten dadurch besser behandelt werden. Gerechtigkeit liegt nicht in einer allgemeinen Verschlechterung.
Das Modell der Kopfpauschale entkoppelt zwar die Kosten der Arbeit von den Gesundheitskosten, und hätte insofern einen wirtschaftsfördernden Effekt, ist aber durch seine Kündigung des Solidarprinzips sozial zutiefst ungerecht. Die durch die derzeitige Regierungskoalition zu bewältigende Zusammenführung dieser Finanzierungsmodelle ist nur dann vorstellbar, wenn die jeweilig entstehenden Lücken durch Steuermittel ausfinanziert werden.
In Berlin ist in der Folge des Systems der Zwei-Klassen-Medizin, genau wie in einigen deutschen Flächenländern, seit Jahren ein Prozess einer stetigen Umverteilung bzw. Abwanderung von Facharztpraxen aus Bezirken mit wenigen Privatpatienten in Bezirke mit einer großen Anzahl von Privatpatienten im Gange. In der Folge haben „ärmere“ Bezirke inzwischen einen deutlichen Mangel an Fachärzten, der zu unzumutbar langen Wartezeiten (2 bis 6 Monate) für die Patienten führt und Versorgungslücken nach sich zieht. So gab es 2004 z.B. in Charlottenburg/Wilmersdorf für je 306 Einwohner einen niedergelassenen Arzt, während in Neukölln 655 Einwohner auf einen niedergelassenen Arzt kamen. Für alte und immobile Patienten ist das auch in Berlin ein erhebliches Problem, das von der Politik und der Kassenärztlichen Vereinigung wahrgenommen und angegangen werden muss.
Das gerade neu vom Berliner Abgeordnetenhaus verabschiedete novellierte Gesundheitsdienstgesetz enthält nicht die notwendigen Aussagen zur Zukunftssicherung des öffentlichen Gesundheitswesens. Der Wert dieses GDG bestand zum Ende seiner mehrjährigen Diskussion nur noch in seiner Verabschiedung selbst, aber nicht mehr in seinem Inhalt. Das unter Federführung der Linkspartei.PDS erarbeitete Gesetz erbringt zwar durch Standortfusionen die geforderten Einsparsummen, bleibt aber die eigentlich notwendige aufgabenkritische Betrachtung des öffentlichen Gesundheitswesens schuldig.
Der Öffentliche Gesundheitsdienst muss künftig zielgruppengenauer an den Stellen der Gesellschaft arbeiten, an denen aufgrund zunehmender Armut Menschen durch das „soziale Netz“ zu fallen drohen. Das ist notwendig, weil Krankenkassenleistungen weiter zurückgehen oder die Zielgruppen von niedergelassenen Ärzten nicht erreicht werden können (Illegalität, Obdachlose u.ä.).
Die gesetzlich vorgeschriebene Schuleingangsuntersuchung, die gegenwärtig bei Kindern im Alter von 5 bis 6 Jahren stattfindet, sollte auf das Alter von 4,5 Jahren vorgezogen werden. Da heute die Kinder im Regelfall im Alter von 5,5 Jahren eingeschult werden, entsteht auf diese Weise ein längerer Interventionszeitraum, in dem z.B. festgestellte Mängel bei der Sprachentwicklung und der Motorik der Kinder korrigiert werden können, um sie für die Schule fit zu machen.
Zur tragfähigen fachlichen und personellen Absicherung dieser Aufgaben (und der hoheitlichen Aufgaben im sozialpsychiatrischen Bereich) muss der ÖGD sein Engagement z.B. im zahnärztlichen Dienst und im sozialmedizinischen Dienst nochmals aufgabenkritisch überprüfen. Hier sind mit Hilfe von Kooperationsverträgen tatsächliche Leistungsverlagerungen zu niedergelassenen Ärzten und Freien Trägern notwendig. Zur Leistungserbringung ist in diesen Bereichen kein Arbeitsvertrag mit dem öffentlichen Dienst notwendig.